“If I had heard that an alien mothership had landed in front of the city hall, I don’t think I would’ve been more surprised. I had never, ever thought that this could happen.”
Das war die bescheidene Reaktion des französischen Mathematikers Michel Talagrand (Centre national de la recherche scientifique, CNRS), nachdem ihm der prestigereiche Abelpreis für das Jahr 2024 durch die Norwegische Akademie der Wissenschaften verliehen wurde. Dieser internationale Preis ist vergleichbar mit dem Nobelpreis und mit 7,5 Millionen norwegischen Kronen (ca. 650.000 Euro) dotiert. Die Auszeichnung erhielt Talagrand „für seine bahnbrechenden Beiträge zur Wahrscheinlichkeitstheorie und Funktionalanalysis, mit herausragenden Anwendungen in der mathematischen Physik und der Statistik“.
Prof. Dr. Joscha Prochno, Leiter des Lehrstuhls für Funktionalanalysis an der Universität Passau, gibt einen kurzen Einblick in das Leben und Wirken des Preisträgers:
Michel Talagrand wurde am 15. Februar 1952 in Béziers geboren und wuchs in Lyon auf. Schon sein Vater war Professor für Mathematik und hatte entscheidenden Einfluss auf die spätere Entwicklung seines Sohnes. In einer kurzen Autobiografie für den Shaw-Preis beschreibt Talagrand sich selbst als „sehr durchschnittlichen Schüler“ und erzählt, wie sein Vater in ihm die Freude an der Mathematik wecken wollte, indem er ihn elementare Gruppentheorie lehrte. Die höhere Schule durfte Talagrand nur nach Intervention seines Vaters beim Schulleiter besuchen, da er wegen nicht ausreichender Leistungen in Rechtschreibung und Grammatik eigentlich nicht hätte zugelassen werden sollen; damals waren diese beiden Punkte zentrale Aspekte der Leistungsbeurteilung in Frankreich. Sein Leben änderte sich drastisch, nachdem Talagrand mit 14 Jahren eine Netzhautablösung im linken Auge erlitt (bereits im Alter von fünf Jahren hatte er das Augenlicht seines rechten Auges durch eine Netzhautablösung verloren), die zwar behandelt werden konnte, ihn aber einen Monat an das Bett des Krankenhauses fesselte und in weiterer Folge ein halbes Jahr den Unterricht in der Schule versäumen ließ. Im Krankenhaus besuchte ihn sein Vater täglich, um ihn, das Auge nach dem Eingriff verbunden, in Mathematik zu unterrichten. Talagrand sagt: „So habe ich die Macht der Abstraktion kennengelernt.“ Bereits in seinem letzten Schuljahr verblüffte Talagrand mit zwei dritten Plätzen in den nationalen Olympiaden für Mathematik und Physik. Seine Leidenschaft verfolgte er dann an der lokalen Universität in Lyon weiter und nicht an einer der Eliteuniversitäten des Landes. Aber er sollte die wissenschaftliche Welt in den folgenden Jahrzehnten noch öfter in großes Staunen versetzen.
1977 wurde Talagrand im Bereich Funktionalanalysis bei Gustave Choquet an der Universität Pierre und Marie Curie (auch bekannt als Paris VI) promoviert mit der Arbeit Mesures invariantes, compacts de fonctions mesurables et topologie faible des espaces de Banach. Beinahe seine gesamte wissenschaftliche Laufbahn verbrachte er am CNRS, von 1985 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2017. Er war Directeur de Recherche des CNRS, Mitglied der Arbeitsgruppe Funktionalanalysis des Institut de Mathématique in Paris VI und für mehr als 15 Jahre Fakultätsmitglied an der Ohio State University. Auf die wissenschaftliche Ausrichtung Talagrands hatten zwei Personen wichtigen Einfluss, Gilles Pisier (geboren 18. November 1950) und Vitali D. Milman (geboren 23. August 1939). Das Forschungsgebiet, das diese beiden Mathematiker vertreten und auf dem auch hier am Lehrstuhl für Funktionalanalysis in Passau aktiv geforscht wird, stellt zwei der drei Bereiche, für die Talagrand den Abelpreis 2024 erhalten hat. Mit dem heutigen Tag hat Michel Talagrand 299 Veröffentlichungen, seine Arbeiten sind 6498 Mal zitiert worden (Quelle: MathSciNet), und während für die meisten Mathematiker bereits einer der großen Preise einem Ritterschlag gleichen mag, hat Talagrand mehrere davon erhalten: den Loève-Preis (1995), Fermat-Preis (1997), Shaw-Preis (2019), die Stefan-Banach-Medaille (2022) und natürlich den Abel-Preis (2024). Dies zeigt uns, dass Talagrand ein Mathematiker höchsten Ranges ist, und wir wollen kurz über seine Beiträge sprechen, die vom Abelpreis-Komitee hervorgehoben worden sind. Diese fallen in die folgenden Bereiche: (A) Suprema stochastischer Prozesse, (B) Konzentration von Maßen und (C) Spin-Gläser.
(A) Im ersten der drei Bereiche geht es um die Größe gewisser stochastischer Prozesse, etwa die von sogenannten Gauß-Prozessen, die durch abstrakte Mengen indiziert sind. Bereits in den 1960er-Jahren wurden wichtige Beiträge durch die Mathematiker Sudakov und Dudley gleistet, die untere bzw. obere Schranken für das erwartete Supremum zentrierter Gauß-Prozesse bewiesen. Insbesondere zeigten sie dadurch, dass das Verhalten solcher Prozesse eng mit der geometrischen Struktur desjenigen metrischen Raumes zusammenhängt, den man erhält, wenn man die abstrakte Indexmenge mit einer kanonischen (durch die Inkremente definierten) Metrik ausstattet; die Geometrie taucht in Form der metrischen Entropie auf. Die bewiesenen Schranken sind im Allgemeinen nicht optimal, aber im Jahre 1985 gelang Talagrand mit einer Charakterisierung durch majorisierende Maße der Beweis einer Vermutung von Fernique und er lieferte damit insbesondere die richtige geometrische Beschreibung des probabilistischen Verhaltens solcher zufälligen Prozesse.
(B) Im zweiten Bereich geht es um die Beiträge Talagrands zum Phänomen der Maßkonzentration in hochdimensionalen zufälligen Objekten und Strukturen. Es handelt sich dabei um ein Phänomen der Maß- und insbesondere Wahrscheinlichkeitstheorie, wobei sich hier, grob gesagt, der Zufall selbst aufhebt. Mit anderen Worten: Eine Größe, die von sehr vielen zufälligen Einflüssen abhängt, ist in erster Näherung konstant. Ein zentrales Ergebnis Talagrands ist Talagrands Konzentrationsungleichung, eine isoperimetrische Ungleichung für Produkträume von Wahrscheinlichkeitsräumen, die er 1995 bewies. In diesem Rahmen bedeutet die Manifestation der Maßkonzentration auf qualitativer Ebene: Wenn eine Menge A in einem Produktraum von Wahrscheinlichkeitsräumen ein Maß von mindestens 1/2 hat, dann müssen die meisten Punkte aus dem Produktraum schon dicht an A liegen. Diese und andere Arbeiten Talagrands zur Maßkonzentration haben vielfältige Anwendungen, etwa in der Analyse der Performance von Algorithmen, der Untersuchung kombinatorischer Fragestellungen oder auch von Systemen in der Physik.
(C) Die Theorie ungeordneter magnetischer Systeme der statistischen Physik, die unter dem Namen Spin-Gläser bekannt sind und die auf einem Ising-Modell basiert, bildet den dritten zentralen Bereich, in dem Talagrand wichtige Beiträge geleistet hat. Genauer legte Talagrand im Jahre 2005 eine aufsehenerregende und streng mathematische Lösung eines Problems vor, das der theoretische Physiker Giorgio Parisi 1979 formuliert und für die er (unter anderem) 2021 den Nobelpreis für Physik erhalten hatte; es handelte sich dabei um eine von starker physikalischer Intuition geprägte Heuristik über das Verhalten des Sherrington-Kirkpatrick-Modells für Spin-Gläser, genauer über deren freie Energie. Talagrand gelang in seiner Arbeit die Berechnung dieser freien Energie.
Acknowledgement:
Prof. Dr. Joscha Prochno’s research is supported by the German Research Foundation (DFG) under project 516672205 and by the Austrian Science Fund (FWF) under project P-32405.